PHRIXOS UND HELLE

Im Lande Thessalien lebte mit Nephele, seiner Gattin, und seinen Zwillingskindern Phrixos und Helle der König Athamas. Aber er war von grimmer Sinnesart und verstieß seine Gattin, um eine andere Frau, Ino, zu heiraten. Die Stiefmutter behandelte die unschuldigen Kinder, und besonders den jungen Phrixos, sehr schlecht, bis schließlich Nephele, die Mutter, mit Hilfe des Gottes Hermes für ihre Kinder eintrat. Sie schenkte ihnen einen Widder von göttlicher Herkunft, der auf den Wolken laufen konnte; sein Fell, das man auch Vlies nannte, war von purem Golde. Sie sollten auf ihm durch die Lüfte nach Kolchis reiten, so lautete die göttliche Weisung an das Geschwisterpaar. 

Der Widder kannte den Weg und führte die beiden schnurstracks davon. Als die Jungfrau, die angstvoll den Arm um den Bruder geschlungen hielt, unterwegs in die grausige Tiefe blickte, ergriff sie jäh der Schwindel, sodass sie hinabstürzte; sie fand den Tod in dem Meere, das nach ihr seither den Namen Hellespont, das heißt Meer der Helle, trägt. Phrixos war untröstlich in seinem Schmerz, aber er musste den Wolkenritt fortsetzen. Unversehrt langte er in Kolchis an, wurde gastfreundlich aufgenommen und opferte den Widder zum Danke den Göttern. Das goldene Vlies nagelte er an einen Eichbaum, den König Aietes, der zauberkundige Sohn des Gottes Helios, durch einen ungeheuern Drachen bewachen ließ. Das Orakel nämlich hatte dem König einst geweissagt, sein Leben werde nur dauern, solange er im Besitze des Widderfelles bleibe. Phrixos fand bald darauf den Tod im fremden Lande.

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PELIAS UND JASON

In späterer Zeit nun herrschte in Thessalien der König Pelias. Er hatte sich vor Jahren mit Gewalt des Thrones bemächtigt, der seinem älteren Bruder Aison als rechtmäßigem König gehörte. Aisons Sohn, der junge Jason, war rechtzeitig von treuen Dienern außer Landes gebracht worden, wo er bei dem Kentauren Cheiron, dem Erzieher vieler großer Helden, sicher aufwuchs. 

Pelias, der inzwischen alt geworden war, wusste nicht, dass der Sohn seines Bruders damals gerettet worden war. Nun ängstigte ihn ein dunkler Orakelspruch, der ihn vor einem "Mono-Sandalos", einem "Einsandaler", warnte:

"Hüte dich vor einem Mann, der in nur einem Schuh vor dich tritt, denn er wird dir dein Königreich nehmen." Vergeblich grübelte Pelias über den unerklärlichen Sinn des Götterspruches. Als er nun eines Tages inmitten des Volkes den Göttern sein Opfer darbrachte, trat ein wandernder Held vor ihn hin. Alle Leute staunten über seinen majestätischen Wuchs und seine königliche Schönheit. Pelias aber bemerkte mit Schrecken, dass an dem einen Fuße des Ankömmlings der Schuh fehlte!

Es war Jason, des Königs Neffe, der, zum Manne erwachsen, sich aufgemacht hatte, sein Recht auf den väterlichen Thron zu verlangen; auf der Wanderung war ihm der Schuh im Schlamm eines Baches stecken geblieben.

Pelias war klug genug, ihn freundlich aufzunehmen. Und als Jason sein Erbe verlangte, da stimmte er ihm sogleich zu: "Gern, Neffe, willfahre ich deinem Wunsche", sagte er heuchlerisch; "doch zuvor bitte auch ich dich um einen Gefallen. Es wird dir nicht schwer sein, ihn mir zu erweisen. Schon lange drängt es mich, das goldene Vlies zu besitzen, dessen hohen Wert man überall rühmt. Geh du für mich, da ich schon zu alt für solche Männertat bin, und hol mir das Kleinod! Wenn du mit der Beute heimkehrst, so sollst du den Thron an meiner Stelle besteigen!" Im Herzen aber dachte der heimtückische König, der Neffe werde bei der gefährlichen Unternehmung sein Leben einbüßen.

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DIE ARGOSCHIFFER

Jason ahnte nicht die bösen Absichten des Oheims. Zwar wusste er von den gefährlichen Abenteuern, die drohend am Wege zum goldenen Vlies lauerten, doch es reizte den jugendlichen Helden, sie tapfer zu bestehen. 

So sagte Jason sogleich zu und rüstete ungesäumt zur Fahrt. Er rief die kühnsten Helden Griechenlands zu dem Unternehmen auf. Am Fuße des Berges Pelion ließ er ein Schiff bauen. Athene selber half ihm dabei, und die "Argo"' die nach den Weisungen der Göttin entstand, wurde ein Wunderschiff, wie man es bisher noch nicht geschaut hatte; es war leicht und pfeilschnell, dazu mit dem schönsten Schmuck versehen. Die Helden, die unter Jasons Führung auszogen, nannten sich nach dem herrlichen Schiffe Argonauten, die Argoschiffer. Berühmte Namen waren unter ihnen, Zetes und Kalais, des Windgottes geflügelte Söhne, der gewaltige Herakles und Peleus, der Vater des Achilleus, der scharfblickende Lynkeus und Telamon, der Vater des Aias. Auf der anderen Seite des Schiffes hatte sich Orpheus, der berühmte Sänger, niedergelassen, dazu der junge Theseus und viele andere berühmte Helden - wer will sie alle nennen, die der erhoffte Ruhm zu Fahrtgenossen Jasons machte.

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DURCH ABENTEUER UND GEFAHREN

Die Argonauten hatten vielerlei Kämpfe und Abenteuer auf ihrer Fahrt zu bestehen. Auf der Insel Lemnos hatten die Einwohnerinnen ihre Männer erschlagen, um selber die Regierung zu führen; da sie jedoch bald die Grenzen ihrer Frauenkraft einsehen mussten, versuchten sie die Argonauten zu bewegen, auf der Insel zu bleiben. Aber Herakles bewog die Freunde, freilich mit großer Mühe, Lemnos wieder zu verlassen. 

Als die Helden auf einer kleinen Insel an der phrygischen Küste Halt machten, sollte sie ein großes Missgeschick treffen. Dort wohnten wilde, sechsarmige Riesen zusammen mit dem friedlichen Volke der Dolionen, die im Schutze ihres Stammvaters, des Meergottes, lebten. Kyzikos, dem König der Dolionen, war durch Orakelspruch aufgetragen, die göttliche Schar der Heroen liebreich aufzunehmen; so schritt er den Argonauten freundlich entgegen und hieß sie in seinem Hafen ankern. Gastfrei spendete der junge König den Seefahrern alles, was sie bedurften, Wein und Brot und Schlachtvieh, hieß sie von den Mühen der Reise ausruhen und wies ihnen den Weg für die Weiterfahrt.

Doch die Riesen der Insel, die von der Ankunft der Fremdlinge gehört hatten, brachen in das Gebiet der Dolionen ein und versuchten, den Hafen, in dem die Argo vor Anker lag, durch mächtige Felsblöcke zu sperren. Ein wilder Kampf entspann sich. Herakles' Pfeile wüteten schrecklich unter den Angreifern, und alle Helden stritten so tapfer für ihre Freiheit, dass die Riesen zurückweichen mussten.

Jason drängte sogleich zur Weiterfahrt und löste bei günstigem Winde die Ankertaue; doch bald erhob sich ein furchtbarer Sturm und brachte die Helden in Seenot. Der Strand, auf den sie geworfen wurden, erschien ihnen unbekannt - sie ahnten nicht, dass es das Gebiet der Dolionen war, das sie wieder betraten. Auch die Bewohner, deren Gastrecht die Argonauten soeben erst genossen hatten, erkannten im nächtlichen Dunkel die Eindringlinge nicht, griffen zu den Waffen und versuchten sie aus ihrem Lande zu treiben. Nur mit Mühe konnten Jason und seine Gefährten sich der Feinde erwehren; doch dann drängten sie die Verteidiger vom Strand bis in ihre Stadt zurück.

Als der Morgen das Kampffeld erhellte, erkannten beide Parteien den furchtbaren Irrtum. Das Geschick hatte es gefügt, dass Jason selbst seinen lieben Gastfreund, den jungen König der Dolionen, im Kampfe erschlagen hatte.

In tiefer Trauer erwiesen sie, Argonauten und Dolionen, den Gefallenen die letzte Ehre, bestatteten sie am Gestade des Meeres und veranstalteten feierliche Kampfspiele zum Gedächtnis der Toten.

Nach dem Willen der unsterblichen Götter war für Herakles eine neue Aufgabe vorgesehen. Als die Argo bei der Stadt Kios gelandet war, kehrte Hylas, sein junger Freund und Diener, von einem Gang in den Wald nicht zurück; die Quellnymphe hatte den Jüngling, von seiner Schönheit bezwungen, zu sich in die Tiefe hinabgezogen. Auf der Suche nach dem Freunde versäumte Herakles die Abfahrt des Schiffes, und als der Meergott Glaukos den Argoschiffern verkündete, Herakles sei nach dem Willen der Götter für ein anderes Schicksal bestimmt, mussten sie ohne den bewährten Freund die Fahrt fortsetzen.

Das Schiff trug die Argonauten weiter übers Meer und führte sie an die Küste Bithyniens, wo der König Phineus herrschte. Er hatte einst Zeus erzürnt und war deshalb von schwerer Strafe getroffen worden: Er war erblindet und hatte als schreckliche Gefährten die Harpyien, abscheuliche Wundervögel. Wenn er sich zu Tische setzte, so erschienen die grässlichen Tiere, raubten die Speise und beschmutzten, was sie nicht fortschleppen konnten. Ihre Eisenhaut aber, die sie wie ein Panzer umschloss, schützte sie vor den Waffen der königlichen Wächter, welche die Harpyien von ihrem blinden Herrn abzuwehren suchten.

Phineus hörte mit größter Freude von der Ankunft der Argoschiffer, denn ihm war geweissagt, die Söhne des Windgottes würden einst seiner Qual ein Ende machen. Soweit seine schwachen Kräfte es noch zuließen, schritt er den landenden Argonauten entgegen und bat sie flehentlich um Hilfe. Er war wie sie ein Grieche, und des Boreas Söhne, die der Orakelspruch ihm als Retter verheißen hatte, waren seine leibhaftigen Schwager. Froh umarmten ihn Zetes und Kalais und machten sich sogleich daran, seine Qual zu beenden. Sie bereiteten ihm sein Mahl, und kaum hatte Phineus sich zu Tische gesetzt, da stürzten sich auch schon die gierigen Vögel herab, ihm das Essen zu rauben. Die geflügelten Boreassöhne aber drangen sogleich auf die ungeheuern Wundervögel ein, verfolgten die Flüchtigen durch die Luft und übers weite Meer und bedrängten sie so hart, bis Zeus die Götterbotin Iris sandte und durch sie versprach, dass die schrecklichen Tiere den blinden Phineus künftig in Ruhe lassen sollten.

Da war die Aufgabe der beiden geflügelten Kämpfer gelöst, und schnell kehrten sie zu den Gefährten zurück.

Der blinde König war voll Sorge um das weitere Geschick seiner Retter, denn seine Sehergabe hatte ihnen gefährliche Abenteuer verkündet. Auf dem unendlichen Meer, das sie durchqueren mussten, schwammen die Symplegaden. Es waren zwei mächtige Felsen, die mit ungeheurer Gewalt zusammenschlugen und dann wieder auseinanderfuhren. Zeus selber hatte sie dorthin gesetzt, um jedes Schiff zu hindern, nach Kolchis zu gelangen. Sobald ein Fisch hindurchschwamm, ein Vogel hindurchflog oder gar ein Schiff hindurchfuhr, prallten die schwimmenden Felseninseln mit ungeheurer Gewalt zusammen. "Als Dank für eure Hilfe", sagte Phineus zum Abschied, "nehmet diesen Rat: Schickt eine Taube voraus, die die Felsen zusammenschlagen lässt, und nutzt sodann das Zurückprallen der Steinwände aus, euer Schiff hindurchzusteuern!"

Bei günstigem Winde setzte Jason mit den Gefährten die Seereise fort. Schon von weitem klang über die Wellen das erschreckende Tosen und Krachen, mit dem das felsige Inselpaar zusammenstieß. Als die Helden in die Nähe gelangt waren, ließ einer von ihnen auf Geheiß Jasons eine Taube fliegen. Furchtlos schoss das Tier auf den Engpass zu. Doch schon näherten sich mit rasender Geschwindigkeit die Felsen, stießen zusammen und rissen der Taube die Schwanzfedern ab. Da, als die Steinwände auseinanderfuhren, legten sich alle Männer mächtig in die Riemen und ließen sich vom Strudel mitreißen. Eine ungeheure Meereswoge hob das Schiff in die Höhe, doch ehe es die Enge ganz durchquert hatte, näherten sich schon wieder die drohenden Felswände. Da half die Göttin Athene ihren bedrängten Schützlingen in der höchsten Not; sie gab der Argo einen Stoß, dass das Schiff glücklich der Gefahr entkam. Nur die äußersten Planken des Hecks wurden von den Felsenwänden getroffen.

Wie atmeten die Helden auf, als die freie See wieder vor ihnen lag! "Lasst uns der Schutzgöttin danken!" rief Jason den Gefährten zu, "nun wissen wir, dass Athene weiterhin unsere Fahrt gnädig lenken wird!"

Die Argo war das erste Schiff, dem es gelungen war, glücklich die Felswände zu durchqueren. Seit jener Zeit ist die Zauberkraft der Symplegaden erloschen - ungehindert kann jedes Schiff hindurchfahren.

Alle anderen Abenteuer würden gering sein gegenüber der Gefahr, die die Symplegaden für die Helden bedeutet hatten, so hatte Phineus, der königliche Seher, vorausgesagt, und wirklich hatten sie nun nichts mehr zu fürchten. Der König der wilden Bebryken, der von jedem Fremden verlangte, sich mit ihm im Faustkampfe zu messen, wurde vom starken Polydeukes, dem Sohn der Leda, besiegt.

Auf Jasons Rat hüteten sich die kühnen Seefahrer, an der Küste des Amazonenreiches vor Anker zu gehen, denn es gelüstete sie nicht, mit dem kriegerischen Weibervolk feindlich zusammenzustoßen. Seltsame Völkerstämme erlebten sie auf ihrer Weiterfahrt. Da waren die Chalyben, die nicht wie andere Menschen den Acker pflügten und bebauten oder Herdenvieh auf den Weiden hielten; sie lebten unter Tage, gruben Erz und Eisen aus der Tiefe der Erde und sahen weder Sonne noch Pflanzen ihr ganzes Leben lang.

Als die Helden später an einer Insel vor Anker gehen wollten, wurden sie von den Stymphaliden angefallen. Nur mit Mühe erwehrten sich die Argonauten der schrecklichen Vögel, die ihre stählernen Stachelfedern aus der Luft herabschleuderten. Mit den Schildern schützten die Männer Haupt und Glieder vor den herabsausenden Geschossen, bis sie glücklich an der Insel vorbei waren.

Weiter ging die Fahrt dem Ziele entgegen. Schon sahen die Helden in der Ferne die Gipfel des Kaukasus aus den Wellen herauswachsen. Dort begegneten sie auch dem Adler, der auf dem Fluge zu Prometheus war, um nach Zeus’ Geheiß ab der Leber des Angeschmiedeten zu fressen. Von Ferne hallte schaurig das grässliche Stöhnen des Titanensohnes über die weite Meeresfläche.

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DIE ARGONAUTEN IN KOLCHIS

Endlich ankerte die Argo im Flusse Phasis, der Kolchis durchfließt. Froh blickten die Helden auf das Ziel ihrer Fahrt, den heiligen Hain des Ares, in dem der Drache das goldene Vlies bewachte, und dankbar spendeten sie den Göttern ihr Trankopfer. 

Den Friedensstab des Hermes in der Hand, schritt Jason mit einigen Gefährten in die Stadt. Wie sollte er vor den König Aietes treten? Sollte er als Fordernder kommen, sollte er es mit Bitten versuchen? Niemand wusste, wie der Kolcherkönig ihn aufnehmen werde.

Hera, die Göttermutter selber, trat dem Unterhändler schützend zur Seite. Sie legte dichten Nebel über die Stadt, damit keiner der Einwohner den Fremden feindlich begegne, und ließ Jason mit den Gefährten ungesehen den Königspalast betreten. Staunend standen sie vor dem mächtigen Königshause, dessen kunstreicher Schmuck aus der Hand des Hephaistos selber stammte.

Da fügte es Hera, dass Medea, des Aietes Tochter, den Fremdling erblickte, und die Königstochter entbrannte sofort in inniger Liebe zu Jason. Eros, der Liebesgott, hatte sein Geschoss vom gespannten Bogen auf sie schnellen lassen!

Die Argonauten traten vor den Kolcherkönig und gaben sich zu erkennen. "Pelias von Thessalien schickt mich, das goldene Vlies von dir zu fordern." Er konnte nicht widersprechen, denn ein Orakelspruch hatte einst bestimmt, dass er das kostbare Kleinod nicht verweigern könne, wenn Männer aus Griechenland kämen und es forderten. "Ich werde euch eure Bitte nicht versagen", erklärte er entschlossen, "doch eine Forderung stelle ich zuvor: Ich habe zwei Flammen speiende Stiere, die Hephaistos selber aus Erz geformt hat. Die sollst du vor den Pflug spannen und mit ihnen, so wie ich es zu tun gewohnt bin, das Feld des Ares beackern. Und in die Furchen sollst du die Saat hineinbringen, die ich dir gebe: Drachenzähne sollst du säen, aus denen eiserne, lanzenbewehrte Männer wachsen werden."

Jason blickte den König furchtlos an. Mochte Aietes hoffen, dass die schrecklichen Stiere oder die Eisenmänner ihn verderben würden, er wagte es, auf die Bedingung einzugehen. Er gedachte der Weissagung des alten Phineus, der den Argonauten glückhafte Rückkehr verkündet hatte.

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DIE KRAFTPROBE

Die schöne Königstochter fühlte sich von einem seltsam zwingenden, süßen Weh zerrissen, gegen das sie sich nicht zu wehren wusste. All ihr Sinnen folgte dem herrlichen Griechen, und in der Stille ihrer Kammer suchte sie Linderung in heißen Tränen, denn niemand durfte ja von ihrer Liebe zu dem Fremdling erfahren. 

Als sie endlich erlösenden Schlaf gefunden hatte, weilten auch im Traume all ihre Gedanken bei dem Fremden. Sie sah sich selber im Kampf um das goldene Vlies, hörte Jasons Stimme, der sie als Gattin heimzuführen versprach, und zitterte vor der Weigerung der Eltern, dem griechischen Fremdling seinen Kampfpreis zu geben. In bitterem Schmerze schrien die Eltern auf, als sie die geliebte Tochter davongehen sahen. Bei diesem Schrei fuhr Medea verstört aus dem Schlafe.

Doch ihr Entschluss war gefasst, Jason im Kampfe beizustehen. Sie reichte ihm einen Saft, der ihn für einen Tag unverwundbar machte und ihm so große Kräfte verlieh, dass er jeden Gegner überwinden würde. Dazu gab sie ihm Ratschläge für den Kampf mit den Eisenmännern.

Der folgende Tag war für den Wettstreit bestimmt. Jason erhob sich in der Frühe, brachte den Göttern seine Opfer und rieb sich mit dem Zaubersaft der Königstochter Gesicht und Gliedmaßen wie auch Rüstung und Waffen ein. Dann ließ er sich getrost von den Dienern des Königs den Stall aufschließen, in dem die schrecklichen Stiere hausten. Aietes hatte seine Waffenrüstung angelegt und war mit seinem ganzen Hofstaate zu dem erregenden Schauspiele erschienen: nur schwer konnte der heuchlerische König seine Schadenfreude verbergen, wenn er an den Ausgang der Kraftprobe dachte, denn er konnte sich ja nichts anderes denken, als dass sein Widersacher von den furchtbaren Stieren elend zermalmt werden würde.

Jason dagegen war voll Zuversicht, denn er spürte, welch übermenschliche Kraft ihn durchströmte. War es die Liebe, die ihm Herz und Arm von bisher unbekannter Stärke schwellen ließ, oder war es Medeas geheimnisvolles Zaubermittel? Herrlich anzuschauen wie der Kriegsgott selber, so wird berichtet, schritt der Held daher. Als die streitbaren Tiere dann mit wütender Gewalt aus dem steinernen Gewölbe hervorbrachen, packte er sie unbekümmert an den Hörnern und zwang sie beide unter das Joch des ehernen Pfluges.

Mit Schrecken sah Aietes, wie der Feueratem, der den Stieren in heftigen Flammenstößen aus dem Maule fuhr, den kühnen Mann ganz unversehrt ließ. Welch geheimnisvolle Kraft musste der Fremdling besitzen!

Die Freunde reichten ihm den Pflug und sprangen eilig zur Seite, um nicht vom glühenden Atem der Stiere getroffen zu werden. Jason aber trieb das Gespann mit Lanzenstichen rund um den Acker. Mit Kraft drückte er den Pflug in die Erde, sodass die starken Tiere eine tiefe Furche rissen. Als die Sonne auf der Mittagshöhe stand, hatte Jason das ganze Feld umgepflügt. Da löste er die erschöpften Stiere aus dem Joche, ließ sie frei und ergriff den Helm mit den Drachenzähnen, den Aietes ihm gereicht hatte. Er schritt die Ackerfurchen entlang, säte die Zähne nach allen Seiten und ebnete die Schollen mit seinem Spieße.

Mit Jubel begrüßten die Fahrtgenossen Jasons tapfere Tat. Doch er wusste, welch schwere Aufgabe ihm noch bevorstand. Denn als er gegen Sonnenuntergang wieder aufs Feld zurückkehrte, waren schon aus allen Furchen Eisenmänner emporgekeimt. Der ganze Acker glänzte von Waffen -welch seltsames Bild! Einige waren bis an die Füße herausgewachsen, andere bis an die Knie oder die Hüften oder bis zur Höhe der Schultern, von einigen erblickte man nur den Helm oder einen Teil des Kopfes, der übrige Körper steckte noch in der Erde. Wer schon die Arme oberhalb des Erdbodens hatte, schüttelte zornig die Waffen und hieb mit dem Schwerte drein; die aber schon die Füße frei hatten, machten sich daran, auf Jason loszustürzen.

Da tat der Held, wie die schlaue Medea ihm geraten hatte: Er packte einen riesigen Feldstein und schleuderte ihn mit gewaltigem Schwunge mitten unter die Eisenmänner. Voll Verwunderung starrten alle auf das Schauspiel, das sich nun den Augen bot: Unter den Erdgeborenen erhob sich ein wilder Streit um den Stein. Sie fielen einander mit wütenden Streichen an, auch die zuletzt Entsprossenen stürzten sogleich ins Kampfgetümmel, und im Nu war das weite Feld von Erschlagenen übersät. Mit leichter Mühe wurde Jason Herr der übrigen, die ihre Füße noch nicht aus der Erde gelöst hatten.

König Aietes wusste sich nicht zu fassen in seiner Wut; ihn bewegte nur der Gedanke, wie er den verhassten Fremdling beseitigen könne. Die Fahrtgenossen aber jubelten dem siegreichen Helden zu, und auch Medea freute sich im tiefsten Herzen über den Sieg des Geliebten. Aber sie verbarg ihre Freude sorgsam vor den Ihren, denn niemand durfte von ihrer Liebe wissen.

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JASON RAUBT DAS GOLDENE VLIES

Voller Zorn sann Aietes auf einen Ausweg, den starken Jason um den versprochenen Kampfpreis zu betrügen. Dass seine eigene Tochter dem verhassten Fremdling zur Seite gestanden hatte, konnte ihm nicht verborgen bleiben, und dieser Gedanke erfüllte ihn mit besonderem Grimm. Doch Medea ließ nicht von dem Geliebten. Heimlich entwich sie des Nachts aus des Vaters Palast, schlich zum Schiffslager der Griechen und warnte sie vor der drohenden Gefahr. "Ich will dir helfen, das goldene Vlies zu gewinnen", rief sie Jason zu, "denn nur, wenn du es dem König mit Gewalt zu entreißen wagst, wird es in deinen Besitz gelangen!" 

Sogleich brach der Held zu dem gefährlichen Unternehmen auf, denn nur im Schutze der Nacht würde es möglich sein, in den Hain einzudringen. "Wenn du mir dazu verhilfst, das kostbare Kleinod zu gewinnen, sagte Jason und legte den Arm um die Geliebte, "so werde ich dich als mein rechtmäßiges Weib mit in meine griechische Heimat führen!"

Das Vlies war an den Stamm einer Eiche genagelt und wurde von einem mächtigen Drachen bewacht, der keinen Schlaf kannte; das Ungeheuer war unsterblich und schien deshalb unüberwindlich. Wie sollte es Jason je gelingen, ihm das Widderfell zu entreißen?

Hand in Hand mit dem Geliebten schritt Medea furchtlos auf das Untier zu. Wütend zischte es den beiden entgegen und wälzte zornig den schuppenbewehrten Leib. Die zauberkundige Medea aber warf ihm zwei süße Kuchen vor, die sie mit einem starken Schlaftrunk getränkt hatte, rief mit schmeichelnder Stimme den Schlaf zur Hilfe und betete zur Göttermutter, sie möge ihr auch bei dieser schweren Arbeit Hilfe spenden. Staunend blickte Jason auf Medeas Zauberkraft; denn schon fiel der schreckliche Kopf auf die Brust herab, der Drache schlief ein! Medea träufelte zur Vorsicht noch einige Tropfen ihres Zaubertrankes auf ihn und hieß dann Jason unbesorgt über den Schuppenleib hinwegsteigen.

Freudig ging der Held ans Werk. So stand er nun vor der Vollendung seiner Aufgabe, die ihm den angestammten Königsthron geben und die Geliebte bescheren sollte! In aller Eile löste er die Nägel, mit denen das Vlies an den Stamm geheftet war, schlug den Mantel über das Kleinod und floh mit Medea aufs Schiff zurück. Mit welchem Jubel begrüßten die Argonauten ihren Führer, und mit welcher Freude bestaunten sie das kostbare Vlies, das in der Morgensonne leuchtete!

"Den ruhmvollen Sieg aber", rief Jason den Gefährten zu, "verdanke ich nur dieser herrlichen Jungfrau, die ich als mein liebes Eheweib mit in die Heimat nehmen werde!" Froh umringten alle die schöne Medea und begrüßten sie als Jasons Gemahlin.

Unter Jubelrufen lösten die Argoschiffer dann sogleich die Taue und wendeten den Bug zum heimatlichen Griechenland. Aietes setzte seine ganze Flotte zur Verfolgung der Flüchtigen an, als ihm der kühne Raub gemeldet wurde. Doch mit Medeas Hilfe wussten die Griechen ihren wütenden Verfolgern zu entgehen. Hera selber war es, die die Heimfahrt der Argonauten schützte. Auf ihr Geheiß senkte sich Iris, die Götterbotin, auf dem bunten Regenbogenpfade bis ins Meer herab und wies den Flüchtigen den Weg durch Abenteuer und Gefahren, bis die Argo unversehrt in den Heimathafen einlief. Dankbar weihte Jason das wunderbare Schiff, das ihn mit den Fahrtgenossen so sicher über die Wellen getragen hatte, dem Meeresgotte Poseidon.

Pelias konnte sich jetzt nicht weigern, sein Wort einzulösen, als Jason ihm das Vlies aushändigte. Er hatte nicht erwartet, den Helden heimkehren zu sehen, und sich nicht gescheut, den alten Aison in der Zwischenzeit aus dem Wege zu räumen; Jasons Mutter hatte sich nach dem gewaltsamen Tode ihres Gatten selbst das Leben genommen.

Für diese Gräuel nahm Jason durch Medeas Hand grausige Rache. Sie schlachtete einen alten Widder, kochte die zerstückelten Glieder mit allerlei geheimen Kräutern und ließ durch ihre Zauberkunst plötzlich ein junges Lämmchen aus dem Kessel springen. Als des Pelias Töchter das Wunder sahen, baten sie Medea, auch ihren Vater zu verjüngen. Die zauberkundige Kolcherin versprach es, doch als die Töchter den Alten gemordet und in den Kessel geworfen hatten, löste sie ihr Versprechen nicht ein.

Jason jedoch gelangte nicht in den Besitz des väterlichen Thrones, den er sich so tapfer erkämpft hatte. Akastos, der Sohn des Pelias, vertrieb ihn aus dem Lande, sodass er mit Medea nach Korinth flüchten musste. Dort lebten die beiden Liebenden viele glückliche Jahre; Medea schenkte ihrem Gatten zwei Kinder.

Später jedoch geschah es, dass Medea an der Treue ihres Gatten zweifeln musste, denn Jason wandte sich Glauke, der Tochter des Korintherkönigs, zu. In ihrem Zorn ließ Medea die verhasste Nebenbuhlerin durch ein mit Zaubertränken vergiftetes Gewand, das sie ihr nach erheuchelter Versöhnung zum Geschenk gemacht hatte, einen schrecklichen Tod finden. Ganz zur rasenden Furie geworden, wollte sie Jason die beiden Söhne, die ihrer Ehe entsprossen waren, nicht lassen und tötete sie mit eigener Hand. Jason, der in den Palast stürzte, um die Mörderin zu suchen, fand nur die beiden Söhne in ihrem Blute. Nach Medea aber spähte er vergeblich aus. Als er voll Verzweiflung das Haus verließ, vernahm er ein seltsames Geräusch über seinem Haupte. Er blickte in die Höhe und sah die fürchterliche Mörderin, wie sie auf einem mit Drachen bespannten Wagen, den ihre Kunst herbeigezaubert hatte, durch die Lüfte davonfuhr.

Da wusste Jason sich in seiner Verzweiflung keinen anderen Ausweg: auf der Schwelle seines Hauses stürzte sich der Held in sein eigenes Schwert.

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